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Das verschollene Beatles-Interview
Eine einfache Rechnung
Brief an die Skatgesellschaft
Fix & Foxi
Wir schwimmen dahin.
Die drei Kolkraben

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eine exclusive Auswahl kleiner Erzählungen aus den Jahren 2000-2006
Das verschollene Beatles-Interview
Eine einfache Rechnung
Brief an die Skatgesellschaft
Fix & Foxi
Wir schwimmen dahin.
Die drei Kolkraben

Das verschollene Beatles-Interview

Die Beatles sind eine der erfolgreichsten Popbands der Geschichte. In ihrer zehnjährigen Schaffenszeit prägten sie die Popmusik wie keine andere, und das bis zum heutigen Tage. 1970 war alles vorbei.
Nicht ganz - denn nun tauchte ein mysteriöses deutschsprachiges Album auf, zusammen mit dem folgenden Interview vom 31. August 1975. Das Gespräch mit den Beatles führten zwei Redakteure vom Londoner Daily Mirror, Harry Deboinet und Peter Marx im Suitehotel Tannance, Paris.

Mirror: Erstmal hallo... Augenblick mal, seid Ihr nicht eigentlich zu viert? Wo ist denn dieser Jim Lennon?

Paul McCartney: Hast Du keinen Fernseher zuhause? Jim wurde erschossen, Mann.

Ringo Starr: Ja, genau.

George Harrison: Hallo, mein Name ist George Harrison.

Mirror: George Harrison? Etwa DER George Harrison von der mächtigsten Popcombo der Welt, den Rolling Stones?

Paul: Nein, Du verwechselst ihn, Mann. Du meinst Jim Morrison. Jim Morrison hat Mick Jagger bei einer Séance hier in Montmartre auf einem alten Indianerfriedhof verspeist...

Ringo: War das nicht in einer Mormonengruft in Clovis, New Mexico?

George: Ach herrje, der arme John. Er hat so gute Indianerfilme gedreht...

Ringo: Ja, genau.

Mirror: Nun zu Dir, George.

George: Hallo, mein Name ist George Harrison.

Mirror: Ah, George Jefferson, von Jefferson Airplane.

Ringo: Genau DER!

Paul: Halt' Dich da bitte raus, Ringo.

Mirror: Wenn Ihr mit einem Wort beschreiben könntet, was Euch im Leben nach den Beatles widerfahren ist, welches Wort wäre das?

Paul: Butter.

Ringo: Wie sagten die Rolling Stones doch so...

Paul: Nur ein Wort, bitte, Ringo, Du hast den Mann gehört.

Ringo: Auch Butter.

George: Butterkeks.

Mirror: Und warum habt Ihr ein deutschsprachiges Album gemacht?

Paul: Das habe ich mir auf der Fahrt hierher auch überlegt. Wir wollten nach unserem letzten Album Abby Road halt noch was zusammen machen. Wir unternahmen Fahrradtouren, gingen schwimmen, besuchten Operetten und so weiter, aber das war uns nicht genug. Dann hatte Ringo diese geniale Idee...

Mirror: Und zwar welche?

Paul: Na, ein Album zu machen.

Mirror: Ein deutsches Album.

Paul: Das war uns damals noch nicht bewusst. Eigentlich gibt es keinen Grund, ein deutschsprachiges Album aufzunehmen. Was haben uns die Deutschen schon gegeben außer dem Automobil?

Ringo: Genau.

Paul: Hätten wir ein französisches Album gemacht, könnten mehr Menschen auf der Welt unsere Musik verstehen. Allein in Afrika gibt es Millionen Menschen, die französisch sprechen, und das von klein auf. Die kleinen Babys schreien dann "Uh, maman!" und "uh, le lait, maman, je veux, s'il te plait" und so weiter.

Ringo: In Afrika sind prozentual gesehen eher wenige Menschen der deutschen Sprache mächtig.

George: Halts Maul, Ringo.

Mirror: Und wie seid Ihr mit der deutschen Grammatik klargekommen? Das ist doch gar nicht mal so einfach.

Paul: Ja, wir mussten uns sehr bemühen.

George: Irgendwann, an einem Punkt der Verzweiflung, kam Jim zu uns und sagte: 'Hey, jetzt zieht mal alle Eure Schuhe aus und setzt Euch im Schneidersitz auf den Boden, ich hab Euch was zu sagen.' Wir setzten uns also hin. Und dann sagte er: 'Yoko und ich, wir haben uns was überlegt. Wir pfeifen auf die scheiss-cocksucking-german Grammatik. Wir singen die Songs auf deutsch, aber wir singen aus unseren Herzen heraus. Wir lassen unsere Herzen sprechen und werden die Worte unserer Herzen nicht in irgendeine aberwitzige Grammatikgefängnisse sperren. Man kann wundervolle Songs in deutsch singen, man muss nur wollen, und man muss sein Herz öffnen.'

Mirror: Ein schöner Abschluss für ein Interview. Vielen Dank an die Beatles.

Paul: Ex-Beatles.

Ringo: Ja, genau.

George: Halts Maul, Ringo.

+++

ein Auszug aus dem neuen Album

Luzie in den Luften mit Diamanten

Bild Du selbst in ein Boot auf dem Flusse
Mit Mandarin Baume und Konfiture Himmels.
Jemand ruft Du
Du Antwort sehr langsam
Eine Madchen mit Caleidoskope Äugen.

Zellophan Blümes auf yellb und grun
Turmen uber du Kopf.
Schau für die Medchen mit die sunne in Sie Äugen
Aber Dann Sie weg ist.

Luzie in den Luften mit Diamanten. Ah Ah.

Folge Sie unter zu das brucke bei ein fontane wo steinigende horse
volk essen mozartkugel Kuchen.
jederman schimmelt als du rutschen
hinter das blümschen das wachsen so ungläublisherweise hoch.

zeitung taxi erscheinen auf die brandung
warten zu nehmen du weg.
steigen du zu hinten mit dein kopp in das wolke
and du weg.

Luzie in den Luften mit Diamanten, Ah Ah. Oh ja.

Bild duselbst auf ein locomotive in ein Station
mit plastikin Portier mit schauen durch glaserer
plotzlick jemand da ist in Das drehkreuz
die madchen mit Kaleidoskope Äugen.

Luzie in den Luften mit Diamanten. Oh ja.


Eine einfache Rechnung
Ich persönlich würde es ablehnen, einen Artikel mit der Überschrift "Eine einfache Rechnung" zu lesen. Ich würde nicht einmal die Seite herausreissen und meine Abate Fetels (Pyrus communis var. sativa) darüber schälen. Das liegt daran, daß mich der Titel an eines meiner Traumata der ausgehenden Schulzeit erinnert, mit denen ich zu kämpfen hatte. Und am Ende weiß ein jeder: Es geht um den archaischen Kampf der Geistes- gegen die Naturwissenschaften.

Am Anfang steht mein Abi-Buch, eine in scheußlichen, unsympathischen Farben lieblos bedruckte gebundende Kladde aus dem Copy-Shop (damaliger Preis: DM 25,-). Ein Band voll von Emotionen und Erinnerungen an das zwanzigste Lebensjahr und weder bei eBay noch bei amazon zu finden (zumindest erhalte ich nach Eingabe des Suchbegriffs "mco-abibuch 2001" bei amazon eine Empfehlung für Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum", den Soundtrack und alle anderen Kubrick-Filme).

Der von Sonja B. geschriebene Artikel auf Seite 22 ist betitelt mit "Eine einfache Rechnung" (tatsächlich lautet der Titel "Schule - eigentlich gar nicht so schlimm", was den Inhalt aber im Grunde genommen auch nicht besser macht). Zusammengefasst: Es geht darum, wie man mit lustigen Rechnungen soviele Tage aus dem Schuljahr streicht, daß einem bewusst wird, daß dem/der SchülerIn gar keine Zeit mehr bleibt, um zu schwänzen! Es sei mir an dieser Stelle vergönnt, die Pointe von "Eine einfache Rechnung" vorweg genommen zu haben. Da beginnt es mit "Was haben wir nicht geseufzt! Schon wieder ein Montag Morgen und fünf l a n g e Schultage bis zum nächsten Wochenende" (man beachte die Betonung des Wortes "lange" mittels manueller Spazionierung), und weiter: "Wenn man sich die Sache jedoch genauer anschaut, dürften wir uns eigentlich nicht beklagen. Ich will euch das mal vorrechnen." Sonja B. hatte, soweit ich mich an sie erinnern kann, immer ein Gespür für Komik und Zahlenakrobatik. Ich gehe noch weiter und bezeichne sie als Genie, brachte sie es doch fertig, den Schöngeist (ihren Artikel, ergo das geschriebene Wort) mit den Naturwissenschaften (die lustige Schuljahrsrechenspielerei) zu vereinigen (auch wenn die Chance groß ist, daß sie den Text aus einem der Jugendtaschenkalender von Micky Maus oder GZSZ herausgeschrieben hat)!

Sonja B. gibt mir keine Ruhe. Nachts träume ich von ihr. Ich träume, wie ich ihr in der Schule begegne. Ich muss mehr über dieses Genie erfahren. Ich wage nicht, im Telefonbuch nachzuschauen oder Leute anzurufen, die sie kennen und vielleicht ihre Nummer haben könnten. Dann kommt mir der Geistesblitz: Schau doch mal im Abi-Buch nach! Und natürlich! Wo sonst könnte ich mehr Details, mehr Kenntnis erhalten über meine ehemaligen MitschülerInnen - als in meinem geliebten Abi-Buch.

Die Abi-Buch-Seite von Sonja B. ist verhalten gestaltet, mit einem Portrait von ihr, welches sie dem Kleidungs- und Frisurstil nach in die Richtung des braven Pop-Gothic stellt. Dann zwei Babyfotos von ihr (zumindest vermute ich, dass sie auf diesen Fotos abgebildet ist, der Gesichtsausdruck entspricht in etwa dem von Sonja B. 2001), ein Foto, auf dem sie einen Koalabären streichelt, ein Foto, auf dem sie ein Känguruh streichelt und ein Foto mit zwei Klassenkameradinnen. Sonja B. erzählt ganz unverhohlen und persönlich einem Talkshow-Gast gleich, daß ihre "größte Stärke / größte Schwäche" sei, daß 'sie, wenn sie ein Ziel habe, solange daran arbeite, bis es wirklich erreicht ist / sie oft zu vorsichtig sei, um Risiken einzugehen'. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, welches von beiden genannten Eigenschaften nun die Stärke, und welche ihre Schwäche sein soll.

Nachts träume ich wieder von Sonja B. in der Schule. Aus den Fenstern sticht ein gleißendes Licht in den Gang, der Laminatboden glüht und dampft in der Ferne. Wir befinden uns im dritten Stockwerk. Die Klassenraumtüren schlagen selbstständig auf und zu und flattern im Wind, als ich Sonja B. auf dem Gang treffe. Sie trägt ihre braunen Haare halblang. Ihre großen Vorderzähne spähen aus dem Mund wie der Soldat aus seinem Spalier. Zwei große, weiße Soldaten scheinen hervor (sie scheint Nichtraucherin zu sein). Sie ist einssiebzig groß, leicht untersetzt und hält den GZSZ-Jugendtaschenkalender des Jahres 2001 unter ihrem Arm. Sie trägt ein schwarzes Kleid und lächelt mich an. Ich versuche, ihr eine Frage zu stellen, doch ich kann meinen Mund nicht öffnen. Sie bemerkt meine Bemühungen, mit ihr Kontakt aufbauen zu wollen, und dreht mir den Rücken zu. Über ihrem Gesäß ist ein breites Tribal tätowiert, darunter steht in altdeutscher Frakturschrift: "Was haben wir nicht geseufzt! Schon wieder ein Montag Morgen und fünf l a n g e Schultage bis zum nächsten Wochenende". Das Wort "lange" nimmt eine komplette Zeile ein und hat riesige Leerräume zwischen den Buchstaben. Mir wird übel. Sonja B. dreht sich wieder um und sagt mit rotflammenden Augen: "Meine größte Schwäche ist, daß ich, wenn ich ein Ziel habe, so lange daran arbeite, bis es wirklich erreicht ist." Ich gratuliere ihr noch zu ihrem gelungenen Artikel im Abi-Buch und entferne mich rasch vom Ort.

Am nächsten Tag beschließe ich, das Abi-Buch wieder ins Regal ganz oben zu stellen, wo ich es so schnell nicht wiederfinde. Vorher jedoch verabschiede ich Sonja B. Sie sagt noch "Viele liebe Grüße an... [..] ...die Leute aus meinem Sylt-Zimmer Jessica S., Shirly, Thanh-Thu [..]" und gibt mir einen Tip mit ins Leben: "Es ist besser etwas zu bereuen, das man getan hat als etwas, das man nicht getan hat." Nun, ohne diese risiko- und experimentierfreudige Lebensweise, ohne dieses Temperament, ohne dieses "Ja!" zu einer neuen Denkkultur wäre ihr Pamphlet, ihre Fusion aus Schöngeist und Algebra mit dem Namen "Eine einfache Rechnung" wohl nie entstanden. Danke, Sonja B.


Brief an die Skatgesellschaft
Meine liebe Skatgesellschaft,

leider kann ich am heutigen Treffen nicht teilnehmen. Dies hat verschiedene Gründe, der triftigste ist jedoch folgender: mir geht's nicht so gut. Kopfschmerzen. Die Nacht durchgemacht. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich in irgendeiner Szenekneipe gesessen habe und geraucht und gesoffen habe. Im Gegenteil: es war einer dieser Albträume, von denen man denkt, dass sie nie passieren.

Alles fing damit an, dass mir beim Zubettgehen sehr warm war. Der Tag war lang und heiss gewesen, das erhoffte Unwetter war nicht eingetroffen. Also nahm ich die Bettdecke und legte mich auf die Bank auf meinem Balkon (jene Bank ist eine Rücksitzbank, die ich vor ungefähr zwei Jahren aus einem ausgeschlachteten Fiat Panda herausriss).
Doch schon stand eine ganze Familie von vier Opossums auf der Brüstung und zog mich davon. Sie sagten, sie würden zurückgehen nach Mönchen-Gladbach, die Stadt, aus der sie herkommen. Sie zogen mich an den Füßen über den sommerwarmen Asphalt und lehnten jegliche Bezahlung ab, die ich ihnen anbot – schliesslich war es eine nette Geste, mich so weit zu ziehen, und ich wollte doch immer nach Gladbach.

Wir machten Rast in einer stillgelegten Fensterfabrik in der Nähe von Britisch-Erlangen. Es war Irmgard, der mir die alten Geschichten erzählte, von Kriegen zwischen Ottern und Opossen am Yangzekiang, in der Poebene und in Coaxialmalca. Irmgard war das Vateropossum. Sein Name verwirrte mich schon, schliesslich jedoch klärte mich Irmgard auf: In der Opossumsprache gibt es nur weibliche Vornamen, damit man nicht soviele Grußkarten drucken muss.

Das Mutteropossum bug zur Feier des Tages dann noch eine schöne Opossumarsch-Cremetorte und wir spezten, bis dass die Morgensonne das Feld überrannte.
Als ich erwachte, war die kleine Opossumfamilie erschossen und die Felle abgezogen. Sie sahen aus wie zu groß geratene Shrimps mit großen, blutunterlaufenen Augen. Seltsam, dachte ich bei mir, und nahm den nächsten Zeppelin Richtung Berlin.
Und da ich erst vor einer halben Stunde hier wieder angekommen bin, brauche ich erstmal eine Auszeit. Aber vielleicht komme ich ja doch noch.

Gruß Max


Fix & Foxi
Ich bin schon ein unangenehmer Kamerad. Da ist die ganze Welt da draussen und fährt fröhlich Fahrrad, sitzt am Computer oder hört MP3s, und ich, was tue ich? Ich sitze voller Gram auf dem Balkon und schaue hinüber zu den Müllcontainern. Die Restmüllcontainer sind frisch geleert, nur in den Altpapier- und Verpackungscontainern türmt sich das wiederverwertbare Trashgetüm. Ein leerer 20-Liter-Blumenerde-Sack schaut finster aus dem Rundeinwurf der gelben Plastiktruhe heraus und versucht jedem Recycling-Opfer klarzumachen, das hier GAR NICHTS mehr geht. Echt Sense. So hat sich das der Sack - nennen wir ihn Karsten - nun wirklich nicht vorgestellt. Er schaut sich ratlos im Container um. Chaos, Anarchie, eine Apokalypse in PVC, in allen Farben und transparent.

Aber ganz offen gesagt, Karsten hat nur wenig Erfahrung. Ihn hat es noch ganz gut getroffen. Er weiss nicht, was andernorts passiert - in den weniger angenehmen Vierteln der Stadt. Wo die Müllcontainer nicht unter einem Unterdach untergebracht sind (anstelle der Fahrräder, die nebenan im Regen zu rotem Eisensiechtum dahinrosten). Karsten hat keine Erfahrung. Er kennt die Container nicht, die der prallgelben Glut einer Julisonne ausgesetzt sind; in deren Bäuchen sich Temperaturen von bis zu 65 Grad Celsius entwickeln! Pech haben die sauberen Verpackungsreste, die im Fachjargon Cleanskins genannt werden: etwa die Klarsichtfolie von VHS-Leerkassetten-Doppelpacks oder diese großen Haribo-Tüten, in denen sich wiederum viele winzig kleine Tüten mit winzigen Gumminaschereien befinden.

Ein schlechter Tag also für jene, wenn sich im Inneren diese Bullenhitze entwickelt, und damit meine ich nicht die Art von Hitze, wenn man einem ungebetenen Gast, einem alten Schulfreund, der nur mal der alten Zeiten willen vorbeischaut, eine Pizza im eigenen E-Herd bäckt, und zwar nicht die fantastische Frischteig-Pizza von Oetkers, sondern die fast schon unverschämte No-Name-Pizza Margherita aus der Dreierpackung, die nur vortäuscht, Paprika als Belag zu enthalten. Zumindest ist es keine gewöhnliche Paprika, vielleicht aus dem Privatanbau im Kräutergarten eines zweigeschossigen Klinkerstein-Doppelhauses in einem Aussenbezirk von Fürth, welches die Schwiegermutter des Lidl-Chefs bewohnt. Wenn ich es recht bedenke, könnte ich jetzt, genau in diesem Moment, eine von diesen Margheritas zu mir nehmen.

Jedenfalls ist es in diesem unüberdachten Verpackungscontainer nicht so heiss, wie wenn man neben dem leicht geöffneten Ofen steht, nachdem man einem ungebetenen alten Schulfreund eine von diesen fantastischen Lidl-Pizzen zubereitet hat; wenn man da nun steht, sich an den Ofen lehnt und einem Temperaturen von immerhin noch etwa 80 Grad Celsius den Arm hochströmen, man sich aber vielmehr statt mit dem Schmerz mit der Frage herumquält, wie man den garstigen Zeitgenossen loswerden kann. Ganz so warm ist das nicht im Container, doch wenn die Cleanskins Pech haben, dann liegen weiter unten im unüberdachten Container leere Plastikbecher, die mal saure Sahne beinhalteten.

Sagte ich leer? Natürlich ist noch soviel Rest in den Bechern, dass sich der Geruch von verwesenden Molkeprodukten im Container breit macht. Ganz schön unfair, denken sich die Cleanskins, und versuchen aus dem Container zu springen, doch sie versagen, im Gegenteil sogar, einige von ihnen rutschen noch tiefer und stürzen schreiend in den Schlund ihrer eigenen Hölle voller oxidierender Ekligkeit, in der die garstigen und übelrichenden Plastikrecken grinsend darauf warten, neue Opfer in Empfang zu nehmen und sie mit ihren pulsierenden grünen Schimmelflecken zu übersehen.

Karsten geht es dagegen relativ gut. Eben hat er ein paar ausgewaschene Sahnejoghurtbecher auf der Erde vor sich entdeckt und denkt sich nichts weiter bei ihnen. Es könnte weissgott schlimmer sein. Im Moment fühlt er sich recht sicher, auch wenn sein Inneres nach außen gekehrt ist und sein Leib mit feuchter Blumenerde übersäht ist. Aber Karsten ist selbstbewusst; er weiss sich den anderen gegenüber zu behaupten. Er weiss, dass er nicht schön ist. Aber er weiss auch, dass es in einer Welt voller Oberflächlichkeit von großem Wert ist, ein gesundes Maß an Selbstkritik, Verantwortungsbewusstsein, Charme und Moralvorstellungen zu haben. Das wissen die anderen im Container, und deswegen lassen sie Karsten in Ruhe. Solange sie ihre stinkenden Finger von seiner Würde lassen, wird er ihnen wohl gesonnen sein, und sie danken ihm dafür.

Einen Moment später kommt ein Müllmann herbeigegluckst. Er stemmt die Arme in die Hüften, schreit 'Was soll DER Unsinn denn?', reisst den dreckigen 20-Liter-Blumenerdesack aus dem Verpackungscontainer und wirft ihn unsanft in den stinkenden Restmüllcontainer. Der Müllmann ist mir unsympathisch; er ist einer vom Typ Erfolgsmann, der seinen Job zu ernst nimmt und einem Sack Blumenerde trotz seines Drecks, der ihn umgibt, nicht einmal gönnt, in den Aufbereitungsanlagen Hand in Hand mit Klarsichtfolien von VHS-Leerkassetten-Doppelpacks und benutzten Kondomen zu neuem Rohmaterial eingeschmolzen zu werden, statt in der Verbrennungsanlage zu CO2 kremiert zu werden und zu verdampfen.

Aber eigentlich ist mir die ganze Angelegenheit piepegal. Ich bin über andere Dinge entrüstet. Eines dieser Probleme verfolgt mich Tag für Tag, und ich kann nichts dagegen tun. Ich fühle mich wie in einem zwei Meter hohen, eine Fläche von einem Quadratmeter umzäunenden Jägerzaun eingesperrt. Jeden Tag spaziere ich beim Kiosk um die Ecke vorbei, ich bleibe ganz unbeholfen unauffällig stehen. Ich fange an zu pfeifen, luge durch die Schaufensterscheibe, hinter der eine gelbe Plastiktafel in roten LEDs verkündet, wie hoch der Lotto-Jackpot heute steht. Um meine Unauffälligkeit zu unterstreichen, fasse ich einen passierenden Passanten am Arm und sage ihm ganz ruhig und normal und ohne das geringste Augenzwinkern in sein entrüstetes Gesicht, dass er ruhig mal wieder Lotto spielen könne, bei der Summe, schaue er nur!

Genug mit dem Vorspiel. Hinein in den Laden und ins Regal geschaut. Ich schäme mich nicht, einen Blick in den Erotikbereich zu werfen. Die alten Schmuddelheftchen halten sich prima die Waage mit den silbrig leuchtenden Hochglanzformaten, die sich in einer von einem Paar bewohnten Behausung nur behaupten, weil die Titelseiten vorgeben, es drehe sich in dem Heft um Sport, Fitness, Auto und die neue Art zu leben. Vor allem letzterer Begriff spricht die moderne Frau an und könnte sie ungewollterweise(!) dazu animieren, mal einen Blick in das Heft zu wagen. Da könnte der Mann auch gleich ein echtes Schmuddelheftchen auf den Kuchentisch legen, ein Trara, wenn da die Schwiegermutter sonntags auf einen Sprung vorbeikommt! Herrjemienee, würde sie sagen, ich hab‘s ja geahnt, ich hab‘s ja geahnt!

Der Kioskbesitzer weiß genau, was ich brauche. Verstohlen schaut er abwärts zu Boden, er kennt dieses Gefühl, diesen Schmerz, den Männer in sich tragen, wenn ihr Stolz gebrochen ist. Wenn diese Männer, dass heisst, nur die richtigen Männer, zu Boden schauen und ihnen eine Träne die Wange herunterrinnt, die ihrerseits so schnell verschwunden ist, wie sie da war, und der Glanz im fadgelben Neonlicht des engen Kiosks bleibt, der genug aussagt, um Tausend Seiten auszufüllen, Seiten in einem Buch, das ungeschrieben bleibt. Also sehen wir uns wieder an, und der feiste Kerl, er ist ein guter Typ, er schenkt mir diesen Blick, der mir alles verrät. Das hatte ich schon beinahe erwartet. Ja, es kann nicht immer so blendend laufen im Leben. Eine Schlappe muss ein jeder mal wegstecken. Vergiss es, Junge, gibt er mir zu erkennen, ja, ich weiss, so wie immer. Und dann verweist er, wie immer, auf die neue Garde, Yu-Gi-Oh, Bravo Fun, Das offizielle GZSZ-Fanzine, Sailormoon.

Aber er weiss, ich bin noch nicht bereit dafür, und vielleicht werde ich es auch niemals sein. Er ist vom gleichen Schlag wie ich, ich weiss es. Woher? Ich fühle es, das ist alles. Er meint es ja nur gut mit mir. Aber ich gebe ihm mit einem Blick zu verstehen, was ich ihm jeden Tag zu verstehen gebe: Vergiss es, Alter. Das ist einfach nicht mein Way of Life. Aber ich werde wiederkommen. Und eines Tages wird es eine neue Ausgabe von FIX & FOXI geben. Bis dahin sehen wir uns wieder, jeden Tag, bis einer von uns den heiligen Boden dieses Planeten verlässt. Also, bis dann, Alter. Oh, und dann nehme ich noch diese Fishermans...nein, nicht die, die Milderen ohne Zucker.

Wieder zuhause angekommen, sitze ich auch schon auf dem Balkon. Der Altpapiercontainer drüben starrt mich mit weit geöffnetem Maul an. Bitte, Max, bitte, füttere mich, es wird auch dein Schaden nicht sein. Dieses Gejammer lässt mich mehr als kalt. Ich hole meine alten Fix & Foxi-Hefte hervor und lese eins nach dem anderen. Der Container starrt noch immer zu mir herüber, endlich ist er stumm. Gar nicht so übel, das Leben, denke ich.


Wir schwimmen dahin.Wir sind über unser Schicksal längst erhaben, oder glauben es zumindest. Wo gehen wir hin? Sind wir schon angekommen? Und wer hat diese Stadt gebaut, diese Ansammlung von verschwommenen Bildern, Gesichtern hinter getönten Autoscheiben, Sphären von Dieselruß und stetig allen Alters umgebender Demenz?

Die Gesichter verschwimmen, zerreißen beim Anfahren, ein Grinsen in der Grünen Welle, dann wieder Ärger, Gehupe. Wollt ihr überholen oder überholt werden? Nutzt die Busspur, ab 18h ist sie euer.

Aber bleibt nicht stehen, sonst bleibt ihr zurück im Rennen, das Zeitfenster kennt keine Gnade, der Strom fließt bis zum nächsten Stau. Euer Geist ist frei, entflogen, woanders, euer Herz sehnt nach Frieden und Geborgenheit und einem freien Parkplatz.

Nur nicht verrohen! Laßt euch in die Arme nehmen und liebkosen, träumt, vergeßt und tut, was ihr nicht lassen könnt. Doch vorher lasst Geist und Seele nicht im Baumarkt und bei Conrad liegen, denn dort wird aufgekehrt und weggespült, was nutzlos ist.

Habt acht vor der Reibung! Reibung ist überall, zerrieben wird der, der sich einläßt auf dies Leben zwischen Podcasts und Verlorenheit, der, der in der Menschen Augen sieht und nichts findet als Muskeln und Gewebe.

Wo bist du, wenn das alles nicht mehr ist? Trauerst du, feierst du die Freiheit und verlorene Zeit, suchst du - vergebens - deinen USB-Stick? Die Lächerlichkeit einer Generation verdrückt sich wie ein Haufen feiger Bengel, und zurück bleibt, was man selbst draus macht.


Die Geschichte von den drei Kolkraben
Das spröde Seil liegt fest in ihren großen, fleischigen Fäusten. Ob ich die Geschichte von den drei Kolkraben kenne, fragt sie und lacht. Ich wundere mich, daß sie meine Sprache spricht. Das Blut schießt mir weiter in den Kopf, dazu die blendende Weiße des Mittagslichts. Mein schwarzer Schatten legt sich auf die Felsen unter mir, ein Meter weiter die Klippen und die weiße Brandung. Der verwitterte graue Holzbalken ächtzt unter meinem Gewicht. Wenn ich anfangen würde zu schaukeln, nur ein klein wenig Schwung bekommen, dann würde ich vielleicht im Wasser landen, aber so – so, wie ich hier baumele wie ein nasser Sack Hirse. Mit einer Bewegung von ihr würde ich in Sekunden auf den Klippen zerbersten und ein letzter abgerissener Schrei würde das rotbraune warme Gestein entlanghallen, bevor ich in der Gischt versiege.

Ich hätte sie gestern abend nicht im Dorf ansprechen sollen. Zuviele Gläser von warmem Escorial, Jahrgang '65 vermutlich, zuviel Musik und Tanz und warme Versprechen, die in mein Ohr hallten. Es war ja nichtmal ein Versprechen, nur die Lust und Fantasie und die Einbildung vom starken Mann, der sich die Frau nimmt, wie ein wilder Tiger sich die Antilope reißt. All dies geschah nur in meinem Kopf, aber an jenem Abend sah sie mir meine Träume an und schwor sich, sich zu rächen.

Ich kneife die Augen zusammen und erkenne sie wieder. Ihr dunkelbraunes Haar hat sie zu einem Zopf zusammengebungen, sie trägt ausgewaschene Jeans, eine weiße, weite Bluse, die im Wind weht. Sie hat hohe Wangenknochen, ein schmales Gesicht, ihre Arme sehnig und sonnengebräunt, das passt zu ihren Fäusten. In ihren Augen ein kleines, schwaches Funkeln, 1:0 für sie.

Ein alter weißer Mercedes-Jeep hält hinter ihr und wirbelt roten Staub auf. Ein kleiner untersetzter Mann mit sonnenverbrannter Glatze springt heraus und schreit sie an. Sie müsse nun gehen, ruft sie mir zu. Sie bindet das Seil an einen Holzpflock in der Erde. Sie schaut mich an. "Den einen Tag sitzen drei Kolkraben auf einer Wäscheleine, einer schwarz wie Kohle, einer braun wie Pinienzweige, der dritte grün wie die See. Sie sitzen zusammen und erzählen sich Geschichten und einer ist so prahlerisch und schlechtiger als der andere. Aber wie es das Schicksal so will, finden alle drei an diesem Tag ihre gerechte Bestimmung. Der Schwarze landet, dumm wie er ist, am Rande eines Hochofens, der grade angefeuert wird, und fällt in die angeschürte Kohle. Der zweite Kolkrabe fliegt zur Armenstube hinüber, deren Bewohner einzige Freud es ist, ab und zu ein Butterbrot mit Pinienkernen einzunehmen. Er stiebizt sich einen ganzen Zweig, fliegt weg und verschlingt die Kerne mit einem Mal. Da packt ihn ein Feuer im Magen und frißt ihn von innen nach außen auf, denn an diesem Tag hatten die Bewohner des Armenhauses Arsen an die Pinien geträufelt, um den Kolkraben zu erwischen. Und der dritte Rabe – der bist du." Sie steigt ins Auto und ist davon.

Langsam strecke ich mich nach oben, um den Balken zu erreichen. Es vergehen Stunden. Die Sonne trocknet mich, die Haut pellt sich, meine Knöchel sind wundgeschürft von dem festen Seil. Ich beuge mich wieder, mit aller Anstrengung, versuche, den Balken zu ergreifen, mein Bauch schmerzt, ich muss mich übergeben. In der Ferne geht langsam die Sonne unter, ein Schiff verschwindet im grellen Licht, das mir die letzten Tränen aus den Augen brennt. Dann bricht der Balken und in Sekunden zerschellt mein rotes Fleisch am kargen Stein.

alle Texte ©2000-2006 Max Pohlenz.